Hamilton kreidet Vettel Fehler an: Ich wäre vorne geblieben

, 23.10.2017

Warum Hamilton Vettels Start als grenzwertig empfand und er aus dem Cockpit einen Kardinalfehler erkannte - Ingenieure dachten bis zuletzt an zweiten Boxenstopp

Zwei Überholmanöver und diesmal keine sonntägliche Spazierfahrt für Lewis Hamilton: Der Mercedes-Star ging mit seinem Sieg beim US-Grand-Prix in Austin scheinbar spielerisch den nächsten Schritt zum vierten WM-Titel und baute seinen Vorsprung auf Sebastian Vettel in der WM-Gesamtwertung auf 66 Punkte aus. Dazu hatte er richtig Freude bei der Arbeit: "Es war eines der spaßigsten Rennen seit geraumer Zeit", meint Hamilton und frohlockt über Zweikämpfe gegen Vettel und Max Verstappen.

Dass es zu einem Duell mit dem Deutschen kam, war dem Start geschuldet. Hamilton münzte seine Pole-Position nicht in eine Führung um, weil sich Vettel auf der Innenseite am Silberpfeil vorbeipresste. "Ich bin nicht gut weggekommen, Seb großartig. Interessant war, dass er beim Bremsen in meine Richtung gezogen ist und ich ausweichen musste, um eine Kollision zu vermeiden", wirft er zwischen den Zeilen eine fragwürdige Fahrweise vor, um doch salomonische Worte zu finden: "Es war schon in Ordnung." Ob Hamilton das auch gesagt hätte, wenn es in Kurve 1 gekracht hätte?

So blieb der Puls unten. "Ich bin cool geblieben, weil die Vergangenheit gezeigt hat, dass man überholen kann", rekapituliert Hamilton. Er blieb auf 1,3 Sekunden dran und rollte nach fünf Runden in das DRS-Fenster, um die Lücke ganz zu schließen. Laut Hamilton deshalb, weil Vettel bei seiner Flucht nach vorne einen taktischen Fauxpas begangen hatte. "Ich dachte erst, ich müsste ihm folgen und auf die Boxenstopps warten. Ich sah jedoch, wie viel Druck er machte und merkte, wie gut ich mit meinen Reifen auskomme. So wie er durch die Kurven gefahren ist, hat er seine gekillt."

Hamilton roch seine Chance und wartete nur kurz, bis das rote Auto langsamer fahren musste. Und schon klebte er dem Führenden im Getriebe. Das Mercedes-Ass war überrascht und glaubt, dass er in der gleichen Situation nicht unter Druck geraten wäre: "Er ist zu schnell durch Kurven gefahren, in denen er es nicht hätte tun müssen. Da sind die Temperaturen in die Höhe geschossen. Wäre er an den Stellen vom Gas gegangen, hätte er mich hinter sich gehalten." So wurde es eine Neuauflage des 2012er-Rennens in Austin, als McLaren-Pilot Hamilton Vettel im Red Bull in die Knie zwang.

"Darauf hatte ich mich gefreut. Das ist es, was mir am meisten Spaß macht. Dafür lebe ich und ich habe jeden Moment geliebt", schwärmt Hamilton. Als er mit umgeklapptem Heckflügel am Ende der Gegengeraden ohne Mühe an Vettel vorbeiging, wunderte er sich aber über die fehlende Gegenwehr und fast ein wenig enttäuscht: "Ich war überrascht, dass Seb sich nicht ärger verteidigt hat."

Aggressiver präsentierte sich Vettel, als Hamilton nach seinem sieben Runden später eingelegten Boxenstopp direkt vor ihm wieder auf die Strecke kam, obwohl die Lücke zuvor 6,5 Sekunden groß gewesen war. Doch Ferraris Undercut erwies sich als Wundermittel, auch weil Mercedes mit dem Reifenwechsel zu lange gezögert und Hamilton auf alten Ultrasoft-Schlappen Zeit eingebüßt hatte.

Sportchef Toto Wolff standen die Schweißperlen auf der Stirn, weil er gesehen hatte, wie der Ferrari zeitgleich auf neuen Gummis um den Kurs geflogen war. "Sie hätten noch viel mehr aufholen können. Wir dachten, der Vorsprung wäre groß genug, um Valtteri (Bottas; Anm. d. Red.) zuerst reinzuholen und seine Position abzusichern", sagt er. Doch Vettels starke Outlap hätte Mercedes beinahe einen Strich durch die Rechnung gemacht. Hamilton wunderte sich, wieso er in den Rückspiegeln plötzlich Rot sah. "Warum zur Hölle ist er so dicht dran?!", sei es ihm durch den Kopf geschossen.

Im gleichen Moment war Hamilton ein wenig enttäuscht, kein weiteres Manöver gegen Vettel lancieren zu können: "Als ich aus der Boxengasse kam, hätte ich mir fast das nächste Duell mit ihm gewünscht. Wenn ihr euch nur vorstellen könntet, wie es ist, im ersten Sektor hinter jemandem zu hängen und im gleichen Moment Unter- sowie Übersteuern zu haben. Ich wünschte, wir könnten in der Formel 1 länger und dichter hintereinander fahren."

Fortan war es für Hamilton ein Drahtseilakt, Vettel abzuhängen, aber nicht die Reifen zu ruinieren. "Wir hatten keine Daten, ob der Soft bis zum Ende halten würde", meint Wolff, denn Mercedes war mit dem gelben Pneu im Training kaum gefahren. "Es war eine schwierige Situation, in der die Strategie nicht offensichtlich war - zum ersten Mal seit Jahren." Erst als Vettel die Crew zum zweiten Mal besuchte, entschied sich Silber wegen der komfortablen Reifensituation zum Durchfahren.

"Wir mussten entscheiden, ob wir Sebastian als Feind covern oder an unsere Simulationen glauben und bei unserem Plan bleiben", beschreibt Wolff die Situation. Seine Truppe setzte auf die eigenen Ingenieure - und auf Hamilton. "Er ist im Moment fehlerfrei", schwärmt Team-Aufsichtsrat Niki Lauda. "Er hat den Reifen richtig verstanden und ist nicht nur auf einer Runde in der Lage, schnell zu fahren. Er kann auch den Reifen schonen und trotzdem die Distanz zu den Konkurrenten halten."

Denn auch bei seinem zweiten Überholmanöver des Tages gegen den ohne Boxenstopp führenden Max Verstappen im Red Bull ließ sich Hamilton nicht die Butter vom Brot nehmen. "Das war wie zu Kart-Zeiten", schwärmt er von der Blaupause des Manövers gegen Vettel, wobei der Niederländer versuchte, seinem Kontrahenten die Türe zuzuwerfen. Vergebene Liebesmühe gegen einen wie entfesselt fahrenden Hamilton. Wolff glaubt, dass er ihn "in fünf Jahren Zusammenarbeit nie so stark erlebt" hätte.

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