Ausgangspunkt Singapur: Warum Rosberg wieder gewinnt

, 16.11.2015

Wie eine technische Änderung in Singapur und ein psychologisches Aha-Erlebnis in Austin dafür gesorgt haben, dass Nico Rosberg wieder gewinnen kann

Er kann es also doch noch: Nach Lewis Hamiltons Hattrick in Suzuka, Sotschi und Austin hat Nico Rosberg beim Grand Prix von Brasilien in Sao Paulo eindrucksvoll zurückgeschlagen. Erst zum zweiten Mal in seiner Karriere (nach Barcelona und Monte Carlo in diesem Frühjahr) ist es ihm gelungen, zwei Grands Prix hintereinander zu gewinnen - und plötzlich sieht die Welt ganz anders aus. Auch für Beobachter wie Damon Hill, die ihn schon lange abgeschrieben hatten: "Nico arbeitet hart an sich, und das trägt Früchte", lobt der Champion von 1996 - und geht sogar einen Schritt weiter: "In ihm steckt noch ein WM-Titel."

Ziemlich genau bis "Cap-gate" in Austin stand Rosberg vermeintlich auf verlorenem Posten. Hamilton setzte einen psychologischen Nadelstich nach dem anderen - und hatte damit offensichtlich Erfolg. Als er Rosberg dann nach dem Grand Prix der USA abschätzig die Kappe mit der #2 zuwarf, interpretierte der Geschlagene das als absichtliche Verhöhnung. Schon davor hatte Hamilton mit beinharten Manövern in den ersten Kurven in Suzuka und eben Austin klar sein Revier markiert.

"Das hat sicherlich Spuren hinterlassen bei Nico", analysiert Formel-1-Experte Marc Surer, der "seit Austin" einen veränderten Rosberg wahrnimmt: "Da hat er auch mal was gesagt: 'Der fährt unfair gegen mich!' Und jetzt sagt er sich: 'Ich schlage zurück!' Mit dieser Motivation scheint ihm plötzlich alles zu gelingen." Tatsächlich hat der Vize-Weltmeister nicht nur die Rennen in Mexiko und Brasilien gewonnen, sondern auch die letzten fünf Qualifyings.

Wendepunkt Austin: "Livin' On A Prayer"

Nach der bitteren Pille in Austin feierte Rosberg abends in Downtown in einer Bar, sang, umjubelt von der tobenden Menge, den Bon-Jovi-Klassiker "Livin' On A Prayer" - und stahl dem zurückhaltend auftretenden Hamilton die Show. Der ganze Frust der enttäuschend verlaufenen Saison schien auf einmal wie weggeblasen zu sein. "Austin", sagt Rosberg, "war sehr hart, weil ich dort die Weltmeisterschaft verloren habe. Das hat wehgetan. Aber die Zeit heilt alle Wunden."

Konnte er die erste Kurve in Suzuka, wo sich Hamilton geschickt nach außen treiben ließ, bis Rosberg die Straße ausging, gerade noch akzeptieren, so riss nach Austin sein Geduldsfaden: "Suzuka war hart, aber am Limit. Das war okay. Austin war einen Schritt zu weit." Auch wenn es widersprüchliche Aussagen darüber gibt, ob der Vorfall teamintern diskutiert wurde (Hamilton behauptet nicht), sagt Rosberg mit einigen Wochen Abstand: "Das Team hat das in die Hand genommen."

"Nico", meint Sportchef Toto Wolff nach dem Sieg in Brasilien, "entwickelt sich als Rennfahrer ständig weiter. Diese ganzen Zwischenfälle in der ersten Kurve hatten von den Positionen her alle ein ähnliches Muster. Wenn du außen bist, musst du nachgeben, wenn der Kerl im anderen Auto so entschlossen ist wie Lewis. Das ist einfach eine Dynamik zwischen den beiden, ein grundlegender Bestandteil des Rennfahrens." Den Rosberg offenbar genau studiert hat.

Vorteil Rosberg auch im Psychokrieg

Genau wie Hamiltons Psychospiele. Plötzlich geht dem Weltmeister nicht mehr alles locker von der Hand: In Mexiko liebäugelte er einen Moment lang mit dem Gedanken, gegen den Befehl des Teams auf eine alternative Strategie zu wechseln, weil er an Rosberg nicht vorbeikam, und auch in Sao Paulo erlebte er, wie es ist, im Windschatten Zweiter zu sein und nicht überholen zu können. Und auf einmal ist Rosberg derjenige, der die provokanten Kommentare vom Leder zieht.

"Vielleicht mag er nicht Zweiter werden", antwortet er auf die Frage, warum Hamilton nach dem zweiten zweiten Platz hintereinander so muffig sei. Aber: "Ein paar der Dinge, die Lewis nach Austin gesagt hat, haben mich noch mehr motiviert, zurückzukommen und ihn zu schlagen. Im Kopf hat sich sonst nichts verändert. Ich muss das hinter mir lassen, denn es bringt mir nichts, wenn ich das ewig mitschleppe. Dann gebe ich Vollgas. Da kommt der Finne aus mir raus, der Kampfgeist."

Doch die Wende im Mercedes-Duell hat nicht nur psychologische, sondern auch technische Gründe. Bei der Sieger-Pressekonferenz in Brasilien deutet Hamilton vage an: "Ab Singapur haben wir am Auto etwas geändert. Ob das den Unterschied macht, weiß ich aber nicht. Wir müssen abwarten. Aber seit Singapur ist etwas anders." Was genau, will zunächst keiner verraten - auch Rosberg selbst nicht, trotz expliziter Nachfrage eines Journalisten.

Exklusiv: Das ist seit Singapur anders

'Motorsport-Total.com' hat herausgefunden: Seit Singapur steht den Mercedes-Fahrern eine zweite Variante der Radaufhängungs-Geometrie zur Verfügung, was beim Setup mehr Flexibilität ermöglicht. Keine Spezialentwicklung, um Rosberg aus der Krise zu führen, sondern ein Teil des normalen Entwicklungsprogramms. Und seit beide Fahrer diese zusätzliche Wahlmöglichkeit haben, scheint es für Rosberg wieder besser zu laufen.

"Die Formel 1 bleibt nie stehen", sagt er, "alles befindet sich in Weiterentwicklung, alles verändert sich, es kommen neue Teile, das Auto wird schneller. Man muss sich immer wieder anpassen. Jetzt passt's grad. Die Regeln ändern sich nicht für nächstes Jahr. Das ist für mich eine gute Sache." Rosberg war in Singapur um eine Zehntelsekunde langsamer als Hamilton, hat seither aber alle fünf Qualifyings gewonnen. Plötzlich ist er wieder in jenem Rhythmus, den er 2014 hatte.

Rosberg: Erst verstehen, dann daran arbeiten

Damals gewann er das Stallduell mit 12:7, momentan steht es 6:12. "Letztes Jahr war ich im Qualifying der schnellere Mann, und dieses Jahr dominiert er auf einmal. Da muss ja irgendwas passiert sein", sagt Rosberg. "Ich habe sehr hart daran gearbeitet, das zu verstehen, und jetzt ernte ich die Früchte dieser Arbeit. Wenn du als Erster startest und als Erster durch die erste Kurve kommst, ist das eine enorme Hilfe. Das war einer der Schlüssel, warum Lewis dieses Jahr die WM gewonnen hat."

Laut Niki Lauda, Vorsitzender des Aufsichtsrats des Mercedes-Teams, kommt noch etwas anderes dazu: "Bei Nico ist ein Schalter im Gehirn gekippt, und schon startet er durch. Solche Dinge passieren bei Rennfahrern. Manchmal kämpfst du mit dir selbst, aber dann bekommst du den Kopf frei, und schon geht es los. Denn er ist so schnell wie Lewis. Wenn alles gut läuft, kann er gewinnen. Lewis hat vielleicht nicht mehr den letzten Biss. Im Moment ist Nico besser."

"Rennfahrer sind eine ganz eigene Spezies. Ja, kann sein, dass bei Lewis der Adrenalinspiegel nicht mehr so hoch ist, seit er die Weltmeisterschaft gewonnen hat", stimmt Wolff zu. "Aber die Jungs wissen wahrscheinlich nicht einmal selbst, warum das so ist. Man kann in ihre Köpfe nicht hineinsehen. Das sind einfach Zyklen." Hamilton habe 2015 "alles richtig gemacht, aber er hat in den letzten beiden Rennen die Klasse von Nico gesehen."

Verschwörungstheorie darf nicht fehlen...

Und der ist jetzt bereit, "wieder zu kämpfen. Ich brenne darauf! Ich bin enttäuscht, dass ich die WM dieses Jahr verloren habe, aber ich freue mich, dass ich nächstes Jahr wieder eine gute Chance bekomme. Denn ich bin mir sicher, dass wir ein großartiges Auto haben werden." So weit will er eigentlich noch gar nicht denken. "In Abu Dhabi fahre ich wieder auf Sieg", sagt Rosberg - und ergänzt beim Abschied aus Brasilien mit einem Augenzwinkern: "Sieht doch gut aus, oder?"

Aber Mercedes wäre nicht Mercedes, wenn es da nicht eine Verschwörungstheorie geben würde. Von Hamilton (möglicherweise ganz bewusst) wenig subtil angefacht, zumindest aber nicht dementiert, lautet diese: Wolff und Lauda wollen, dass Rosberg die restlichen Saisonrennen gewinnt, damit dieser wieder auf die Beine kommt - wohingegen Hamilton einen Dämpfer zur rechten Zeit gerade gut vertragen kann, um nicht endgültig abzuheben.

Das kann völliger Unsinn sein oder auch nicht, auf jeden Fall ist es der Renner in diversen Diskussionsforen. Wolff streitet zumindest nicht ab, dass er mit der aktuellen Entwicklung des Saisonendes 2015 ganz glücklich ist: "Man könnte sagen, dass alles richtig läuft. Lewis gewinnt die Weltmeisterschaft, und Nico sichert den zweiten Platz mit einer dominanten Leistung ab. Aus Teamsicht ist das ziemlich optimal."

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