Jackie Stewart: "Fahrer müssen sich mit Tod konfrontieren"

, 16.08.2016

Die Regeln machen die Autos 2017 schneller, Fahrer fordern einen verwegeneren Sport: Jackie Stewart warnt vor Piloten, die den Bezug zum Tod verloren haben

Der Formel 1 steht eine historische Reglementrevolution bevor: Noch nie zuvor wurden die Boliden durch die Regelhüter schneller gemacht, anstatt sie aus Sicherheitsgründen einzubremsen. Zudem mehren sich die Stimmen, die Formel 1 müsse wieder gefährlicher werden. Und Piloten wie Weltmeister Lewis Hamilton sagen, dass sie in ein Auto mit dem optisch umstrittenen Cockpitschutz Halo nicht einsteigen würden. Unterschätzt die Formel 1 also das Thema Sicherheit?

Formel-1-Legende Jackie Stewart ist fest davon überzeugt. Der Schotte, der so viel wie kaum ein anderer für die Sicherheit der Königsklasse des Motorsports getan hat , warnt vor einer großen Katastrophe. "Viele sagen, der Sport ist nicht mehr der gleiche wie damals bei dir", erzählt der 77-Jährige gegenüber dem 'Tagesspiegel'. "Aber die Risiken sind die gleichen. Es ist traurig, aber es wird wohl nicht nur einen, sondern zwei Todesfälle brauchen, bis sie zu Sinnen kommen."

Der letzte Todesfall traf die Formel 1 wie der Blitz: Es handelte sich um den talentierten Franzosen Jules Bianchi, der am 17. Juli 2015 - also vor etwas mehr als einem Jahr - den schweren Kopfverletzungen erlag, die er sich bei seinem Unfall in Suzuka 2014 zugezogen hatte. Für viele Piloten ist es noch heute ein unglücklicher Zwischenfall, der Bianchi damals das Leben kostete: Er verlor bei Regen die Kontrolle über seinen Marussia-Manor-Boliden und donnerte in einen Bergekran, der gerade den Force India von Adrian Sutil abschleppte.

Bianchi-Unfall als Beweis: Unterschätzen Fahrer die Gefahr?

Was viele als reines Pech ansehen, ist für Stewart ein weiterer Indikator, dass die heutigen Piloten die Risiken komplett unterschätzen, was laut dem Schotten die größte Gefahr darstellt. Auch wenn das niemand sagen wolle, aber "der Unfall war zum Großteil Bianchis eigene Schuld", urteilt Stewart. "Es wurden doppelt gelbe Flaggen geschwenkt, das heißt: Bereitmachen zum Anhalten. Er wollte einen Vorteil aus der Situation ziehen, indem er nicht verlangsamte. Die Fahrer fühlen sich zu sicher."

Auch die Minuten vor dem Rennstart seien ein Beweis für die heutige Sorglosigkeit der Piloten: "Da rennen unglaublich viele Journalisten herum und versuchen Statements von den Fahrern zu kriegen. Wir waren so kurz vor dem Rennen in einem völlig anderen mentalen Modus als die aktuellen Fahrer. Ihre größte Angst ist nicht, dass sie sterben könnten. Sondern die, dass sie aus dem Rennen fliegen oder ihr Cockpit verlieren."

Stewart: Mangelnde Konfrontation eine "Schwäche" der Piloten

Stewart ist aber der Meinung, dass die heutige Pilotengeneration einem Trugschluss aufsitzt. Sie vermeiden jede Konfrontation mit dem Tod, dabei sind die Gefahren nach wie vor präsent. Im Vorjahr besuchte kein Pilot im Rahmen des Grand Prix von Monaco den in Nizza im Koma liegenden Bianchi, dabei wäre es laut dem dreimaligen Weltmeister wichtig, sich mit dem Thema aktiv auseinanderzusetzen. "Denn du darfst die Schattenseiten deines Geschäfts nicht ausblenden", argumentiert Stewart.

Den Piloten wirft er "eine Art Blindheit, beinahe einen Widerstand, der Realität ins Auge zu sehen" vor. "Wenn du ins Krankenhaus oder zu einem Begräbnis gehst, dann stellst du dir die Frage: Mein Gott, kann das auch mir passieren? Doch wenn du die Risiken und Gefahren nicht kennst, dann weißt du auch nicht, wie du sie vermeiden kannst." Das sei auch der Grund, warum den heutigen Piloten jegliches "Gespür für diese Gefahr" abhanden gekommen sei.

So tragen einige Piloten heute keine feuerfeste Unterwäsche mehr, sondern verlassen sich auf ihren feuerfesten Overall. "Erst in dem Moment, in dem es wieder ein großes Feuer gibt, werden sie umdenken. Aber dann ist es zu spät", fürchtet Stewart.

Stewart: Angst wegschieben, aber Risiko kennen!

Doch ist es überhaupt möglich, mit der ständigen Angst, im Formel-1-Boliden ums Leben zu kommen, konkurrenzfähig Grand-Prix-Rennen zu bestreiten? Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch aggressiv und kompromisslos in einen Zweikampf gehen, vor allem wenn dein Rivale diese Angst verdrängt? Für den ehemaligen B.R.M-, Matra-, March- und Tyrrell-Piloten ist dies eine Gratwanderung: "Die Angst muss man wegschieben. Aber man muss sein Risiko kennen."

Das hat sich in den 1960er- und 1970er-Jahren in ganz normalen Alltagssituationen gezeigt. So haben die Piloten ihre Hotelzimmer meist ordentlich hinterlassen, weil sie nicht wussten, ob sie überhaupt zurückkehren würden. Und die Fahrerfrauen hatten stets ein schwarzes Kleid mit im Gepäck, da ein Begräbnisbesuch nie ausgeschlossen werden konnte.

Abreise zur Nordschleife und der Blick in den Rückspiegel

"Jedes Mal, wenn ich mein Haus verlassen habe und zum Nürburgring fuhr, schaute ich in den Rückspiegel, weil ich nicht wusste, ob ich zurückkommen würde", gibt Stewart ein weiteres Beispiel. "Die Strafe für einen Fahrfehler auf der Nordschleife konnte der Tod sein, schon wenn man auch nur einen Meter neben der Linie fuhr. Ein moderner Grand-Prix-Pilot hat dafür keine Wahrnehmung mehr."

Dass sich nur wenige Piloten in der Sicherheitsdebatte einbringen und in der Fahrergewerkschaft GPDA eine aktive Rolle spielen, liegt laut Stewart auch am Alter der aktuellen Grand-Prix-Fahrergeneration. "Die meisten sind nicht einmal verheiratet", fällt ihm auf. "Eine Freundin ist eine Sache, aber eine Frau und eigene Kinder sind eine andere. Du musst Verantwortung übernehmen. Wenn es etwas gibt, das man verändern kann, um die Risiken zu minimieren, dann musst du das einfordern."

Auch für Stewart war es ein Prozess, ehe er begann, für die Sicherheit zu kämpfen. Auslöser war der Unfall in Spa-Francorchamps 1966, als er eine halbe Stunde lang mit Benzin übergossen im Boliden eingeklemmt war und nur befreit werden konnte, weil ihm seine zufällig an der gleichen Stelle verunfallten Fahrerkollegen mit einem geborgten Schraubenschlüssel das Lenkrad abschraubten. Auch der Abtransport von der Strecke war eine Katastrophe: Auf das Rettungsauto musste Stewart eine halbe Stunde warten, dann verfuhr sich der Fahrer auch noch. Ihm wurde bewusst: Passiert etwas schlimmeres, dann bist du tot.

Als Stewart seine Gefühle nicht mehr kontrollieren konnte

Ein weiteres Schlüsselerlebnis war der Feuerunfall seines Freundes Piers Courage 1970 in Zandvoort, bei dem der Brite ums Leben kam. "Wir fuhren durch Feuer und Rauch, Runde für Runde, denn das Rennen wurde nicht gestoppt", erinnert sich Stewart mit Schaudern. "Manche Leute nannten es gefühllos, dass wir weiterfuhren, manche nannten uns Fahrer einfach dumm."

Er selbst erklärt es mit einer Art "Kopfmanagement": "Ich dachte: Oh mein Gott, was für ein Unfall! Aber man musste weiterfahren, es gab ja keine Rote Flagge. Irgendwie schottest du deinen Verstand in diesen fürchterlichen Umständen von deinen Gefühlen ab. Bis das Rennen beendet ist." Und selbst als er den Helm abnahm, schob Stewart seine Trauer beiseite: "Es ist nicht leicht, aber als Rennfahrer musst du deine Gefühle kontrollieren, und zwar über den Kopf."

Nur beim Tod von Jochen Rindt in Monza 1970 gelang ihm das nicht. Nach dessen Trainingscrash in der Parabolica-Kurve konfrontierte er sich mit dem Leichnam des Österreichers, der in einem kleinen Ambulanzwagen lag. "Mir war sofort klar, dass er tot ist", schildert er den tragischen Augenblick. "Er hatte viele Bein- und Fußverletzungen, aber er blutete nicht. Das Herz pumpte kein Blut mehr."

Trauer auch rund 40 Jahre danach gegenwärtig

Trotz allem forderte ihn Teamchef Ken Tyrrell auf, sich wieder hinters Steuer zu setzen, um sich für das Rennen zu qualifizieren. "Als ich ins Auto stieg, begann ich zunächst zu weinen", sagt Stewart. "Es war nicht das erste Mal, dass ich mit dem Tod konfrontiert wurde, aber das erste Mal, dass es einen wirklich guten Freund erwischte." Doch dann klappte er das Visier herunter und fuhr die "sauberste Runde, die ich je in Monza gefahren bin. Mein Verstand hat meine Trauer einfach überschrieben."

Erst nach dem Aussteigen konnte er sich nicht mehr kontrollieren: "Erst brach ich in Tränen aus. Aus Wut schleuderte ich eine Colaflasche an die Boxenmauer. Ich werde das nie vergessen, weil ich es in meinem Leben weder davor noch danach getan habe." Erst heute kann Stewart seinen Emotionen nachgeben, wenn er mit den Tragödien seiner aktiven Zeit konfrontiert wird - zum Beispiel dem Tod seines Ziehsohns und Teamkollegen Francois Cevert, der an seinem letzten Grand-Prix-Wochenende ums Leben kam.

"Wenn ich heute mit meiner Frau Helen einen Film über Francois sehe, dann weinen wir. Und wie lange ist das jetzt her? 42 Jahre", verrät Stewart. Auch seinen damaligen Kollegen Jody Scheckter habe er im Fernsehen in Tränen ausbrechen sehen, als er über das Cevert-Drama sprach. "Weil er das niemals vergessen wird, und auch ich werde es niemals vergessen." Die aktuellen Piloten wissen hingegen nicht einmal, "was Trauer ist. Höchstens, wenn jemand aus ihrer Familie an Altersschwäche stirbt."

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