Gewagte Formel-1-Thesen 2016: Was die Experten sagen (2/2)

, 13.12.2016

Sollte Nico Rosberg zum Weltmeister gemacht werden und wurde Lewis Hamilton sabotiert? Unser Expertenteam geht den Fragen der Saison 2016 auf den Grund...

Die Formel-1-Saison 2016 ist Geschichte, und was war das für ein Jahr! Erst das elektrisierende Duell um den Titel, dann die triumphale Krönung von Nico Rosberg zum Weltmeister - und nicht einmal eine Woche später sein völlig überraschender Rücktritt bei der FIA-Gala in Wien. Im Zuge dessen gab es zahlreiche Themen, teilweise abseits der Rennstrecke, die polarisiert und für heiße Diskussionen gesorgt haben. Genau diese Themen greifen wir in einem zweiteiligen Feature für unseren Jahresrückblick noch einmal auf.

Wir haben 20 Thesen aufgestellt, teilweise sehr provokant formuliert, und haben anerkannte Formel-1-Experten* damit konfrontiert. Diese hatten die Gelegenheit, die Thesen mit "Stimmt, weil..." oder "Stimmt nicht, weil..." zu kommentieren - und ihre Meinung kompakt zu begründen. Das Ergebnis ist hochinteressant, bringt teilweise spannende Gedankenansätze zutage und liefert unseren Usern sicher Stoff für weitere Diskussionen. Aber lesen Sie selbst!

Wichtiger Hinweis: Wer noch mehr über die nachstehenden Thesen erfahren will, dem sei die 20. Folge von "Ein Drink mit Eddie Irvine" nachdrücklich ans Herz gelegt. Der ehemalige Ferrari-Star spricht im letzten Video-Interview dieser Saison auch über Rosbergs überraschenden Rücktritt und darüber, warum er den Deutschen für intelligenter hält als Lewis Hamilton.

These #1: Nico Rosberg war 2016 der beste Fahrer im gesamten Feld.

Eine Frage, so alt wie die Formel-1-WM selbst: Ist der Weltmeister am Ende auch der verdiente Champion - und war er wirklich der beste Fahrer? Während die Performance von etwa Sebastian Vettel oder Fernando Alonso in anderen Autos kaum seriös mit jener von Nico Rosberg ins Verhältnis zu setzen ist, hat zumindest Mercedes-Teamkollege Lewis Hamilton immer wieder durchblicken lassen, dass er sich selbst für den wahren Champion hält. Aber wie sehen das die Experten?

Unsere erste Mercedes-spezifische These dieses Jahresrückblicks, dass Rosberg 2016 der beste Fahrer war, stimmt laut Ex-Formel-1-Teamchef Colin Kolles: "Ich würde sagen: Er war der überlegteste Fahrer", erklärt er. "Mit seiner kopfgesteuerten Art hat er das Mercedes-Paket zur Weltmeisterschaft geführt. Vergleiche zwischen Senna/Prost und Hamilton/Rosberg halte ich in Ansätzen für zulässig. Nico hat dabei Prosts Rolle eingenommen."

Auch Journalist Ralf Bach ("Nico hat auf höchstem Niveau die wenigsten Fehler gemacht und ist damit ein verdienter Weltmeister") und Alexander Wurz stimmen Kolles zu: "Seit Beginn der Formel-1-WM messen wir den Besten am Punktestand, und der Punktestand zeigt genau, dass diese These richtig ist. Ja, Nico war der Beste - er ist unser Meister der Formel-1-Welt", hält Wurz fest.

Nur unser Video-Experte Eddie Irvine, selbst Vizeweltmeister 1999 auf Ferrari, spuckt in die Suppe: "Nico hat nicht das Talent von Lewis", sagt er in Folge 20 unserer Video-Interviewserie "Ein Drink mit Eddie Irvine". "Ich habe gelesen, dass er viel Mentaltraining gemacht hat und Kart gefahren ist. Ich finde aber nicht, dass er dieses Jahr besser gefahren ist als in der Vergangenheit. Wenn man sich die Leistungen genauer anschaut, war Lewis immer noch im Vorteil, zumindest über weite Strecken des Jahres."

"Lewis hatte aber auch ein bisschen mehr Pech als in den Jahren zuvor. Lewis war nach wie vor der etwas Bessere, was die Performance angeht. Insofern glaube ich, dass sich Nico dieses Jahr enorm angestrengt haben muss. Die Götter waren freundlich zu ihm, er hat die Weltmeisterschaft gewonnen - und er verdient es. Lewis hätte es vielleicht noch ein bisschen mehr verdient, aber hey: Es gibt viele, die nicht der beste Fahrer waren und trotzdem die WM gewonnen haben", findet Irvine.

Für unsere Leser ist der Fall übrigens klar: Laut einer Online-Umfrage mit fast 6.000 abgegebenen Stimmen (nicht repräsentativ, da Mehrfachabstimmungen möglich) finden 82,84 Prozent, dass Rosberg ein verdienter Formel-1-Weltmeister 2016 ist.

These #2: Spätestens mit dem Mechaniker-Tausch stand fest: Wenn möglich, soll Nico Rosberg 2016 zum Weltmeister gemacht werden.

Eine der kontroversesten Mercedes-Thesen zur Saison 2016: Vor Saisonbeginn hat Toto Wolff entschieden, Teile der Mechaniker-Crews von Nico Rosberg und Lewis Hamilton auszutauschen. Um Personal zu rotieren, Grüppchenbildung im Keim zu ersticken und die Fähigkeiten des Personals individuell zu entwickeln, wie offiziell begründet wurde. Um alle Voraussetzungen dafür zu schaffen, Rosberg zum Weltmeister zu machen, wie Verschwörungstheoretiker glauben.

Tatsache ist: Das Technik-Pech, von dem 2014 und 2015 oftmals Rosberg verfolgt wurde, klebte 2016 plötzlich Hamilton an den Hacken. Aber gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Defekten und den Mechanikern? "Stimmt nicht", glaubt sogar Colin Kolles, seit einer Kontroverse mit Wolff im Jahr 2013 dem aktuellen Mercedes-Management gegenüber zumindest skeptisch eingestellt. Er sagt: "Der Tausch hatte meiner Meinung nach tatsächlich den Grund, dass man keine Gruppierungen im Team braucht, keine Teams im Team. Aus meiner Sicht die richtige Entscheidung."

Auch die beiden Ex-Fahrer in unserem Expertenpanel winken ab: "Völlig falsche These", stellt Alexander Wurz klar, und Eddie Irvine erklärt: "Daran glaube ich nicht. Mechaniker haben nicht so viel Input. Ich glaube, es war eine sehr gute Idee. Ich war vier Jahre mit Michael bei Ferrari - und da war es wirklich so, dass es 'die da drüben' auf der einen und 'wir' auf der anderen Seite waren. Es ergibt Sinn, die Mechaniker zwischen den Fahrern zu tauschen. So wird ein Team wirklich zum Team."

These #3: Sabotage ist in der modernen Formel 1 unmöglich. Lewis Hamiltons technische Probleme waren eine Ansammlung von unglücklichen Zufällen.

Der Motorschaden in Malaysia, in Führung liegend, hat Lewis Hamilton im Nachhinein betrachtet womöglich den WM-Titel gekostet. Unmittelbar danach nährte der Mercedes-Pilot, anknüpfend an These #2 (Mechaniker-Tausch), die Verschwörungstheorie, er werde gezielt sabotiert, um Nico Rosberg zum Weltmeister zu machen. "Etwas oder jemand will nicht, dass ich dieses Jahr gewinne. 43 Motoren! Acht Mercedes-Autos! Und nur meiner geht vor die Hunde!", fluchte er. Später ruderte Hamilton zurück: Mit "etwas oder jemand" habe er nicht Toto Wolff und Niki Lauda gemeint, sondern eine höhere Macht. Aha.

Vorweg: Von unseren vier Experten glaubt keiner daran, dass Hamilton von Mercedes bewusst sabotiert wurde. Aber wäre so eine bewusste Sabotage eines Fahrers in der Formel 1 zumindest theoretisch denkbar? Ausgerechnet der Journalist im Bunde, dem man rein professionsabhängig einen Hang zu Verschwörungstheorien attestieren würde, hält solche Gedankenspiele als einziger Experte für "absoluten Schwachsinn. So dumm kann ich noch nicht mal denken", positioniert sich Ralf Bach klipp und klar.

Alexander Wurz, ein langjähriger Weggefährte von Mercedes-Sportchef Wolff, hält fest: "Sabotage fand hier hundertprozentig keinen Platz im Technikdepartment." Aber er ergänzt, dass so etwas "natürlich möglich" sei. Eine Meinung, die sich mit jener von Colin Kolles deckt: "Sabotage ist möglich. Ich glaube, dass es in diesem speziellen Fall eine Ansammlung von unglücklichen Zufällen war. Aber man kann Sabotage nicht generell zu 100 Prozent ausschließen."

Kolles muss es wissen, schließlich hat er selbst schon mehrere Motorsport-Teams bis hinauf in die Formel 1 geleitet. "Wenn jemand sein Team einigermaßen im Griff hat, ist alles denkbar. Nicht moralisch richtig, aber möglich", sagt er über bewusste Sabotage in der Formel 1 und führt aus: "Mindestens zwei bis drei Personen müssten eingeweiht sein." Ergo: "Toto Wolff hätte das nicht selbst machen können."

"Er hätte dafür einen gebraucht, der sich mit der ganzen Computertechnik auskennt. Über die Motorenelektronik kann man einiges steuern. Das ist aber nicht einfach, vor allem dann die Geheimhaltung. Erledigt man Sabotage mechanisch, fliegt der Motor gleich in die Luft", erklärt Kolles und ergänzt: "Man könnte auch vom Werk aus Sabotage betreiben, indem ein gewisser Schaden eingebaut und der Fehler im Nachhinein als 'unbewusst passiert' dargestellt wird."

Unabhängig von unserer These ist Eddie Irvine kein Freund von Verschwörungstheorien. Wer sich mit solchen Dingen auseinandersetze, vergeude seine Zeit, findet er. Aber Hamiltons kritische Aussagen nach Malaysia seien "wirklich dumm" gewesen: "Manchmal müsste man Lewis einfach ohrfeigen", sagt der Ex-Ferrari-Pilot in seiner bekannt undiplomatischen Art.

These #4: Lewis Hamilton weiß um seine Unantastbarkeit als Rennfahrer und führt das Teammanagement beliebig an der Nase rum. Mit Ross Brawn am Kommandostand wäre das nicht passiert.

Der Kern dieser These, genährt durch das Ignorieren der Funkbefehle in Abu Dhabi: Toto Wolff und Niki Lauda sind als Teamchefs nicht stark genug, um einen egoistischen Charakter wie Lewis Hamilton im Interesse des Teams zu kontrollieren. Jemand wie Ross Brawn hätte das besser hinbekommen. Eine These, der unsere vier Experten mehrheitlich nicht zustimmen. "Lewis denkt, die Sonne dreht sich um ihn. Das wäre auch bei einem Ross Brawn nicht anders", glaubt zum Beispiel Ralf Bach.

Alexander Wurz sagt augenzwinkernd: "Am Ohr kann er sie ja schwer herumziehen." Aber: "Hamilton macht im Zweifelsfall das, was er als richtig empfindet - und zwar mit jeder Teamführung." Und Eddie Irvine nennt ein Beispiel, bei dem auch der vielgepriesene Brawn schon mal an die Grenzen seiner Autorität gestoßen ist: "Rubens Barrichello hat damals den Call in Österreich auch bis zur allerletzten Kurve ignoriert", erinnert er an den legendären Todt-Funkspruch "Let Michael pass for the championship".

Dass die These stimmt und Brawn den abgehobenen Superstar besser unter Kontrolle gehabt hätte als Wolff, glaubt nur Ex-Teamchef Colin Kolles: "Hamilton hat im Auto richtig Eier, und das überträgt sich auf sein Verhalten im Team - weil er weiß, dass andere nicht die gleichen Eier haben. Er kann sich viel erlauben, weil er weiß, dass er einer der besten Rennfahrer ist. Es gibt aber noch andere sehr gute Rennfahrer."

"Jetzt wird darüber spekuliert, ob Mercedes ihn bestraft oder rausschmeißt. Gar nichts wird passieren! Vielleicht brummen sie ihm intern eine Geldstrafe auf. Über die lacht er sich dann kaputt", winkt der Deutsche ab und ergänzt: "Ich hätte die Sache in Abu Dhabi anders geregelt. Ich hätte ihm am Boxenfunk gesagt, dass das Team eben auch foul spielen muss, wenn er sich nicht korrekt verhält. Man hätte ihm sagen können, dass er ein anderes Mapping fahren muss."

Aber: "Man muss ihn im Grunde so nehmen, wie er ist. In seinem Vertrag steht sicher, dass er sich an Anordnungen des Teams halten muss. Man könnte ihn also kündigen. Aber da kommen seine Eier ins Spiel: 'Ich bin schnell, sollen sie mich halt kündigen!' Ein Fahrer muss von vornherein gut erzogen werden, nicht im Nachhinein. Im Nachhinein ist es schwierig. Ein Fahrer muss kapieren, auch wenn er 15-maliger Weltmeister ist, worum es geht."

"Das Team steht an erster Stelle. Im Grunde genommen ist er nur ein kleiner Angestellter. Wenn Toto Wolff seine Autorität zurückgewinnen will, muss er ihn rausschmeißen. Aber das wird er nicht tun", glaubt Kolles. "Nebenbei bemerkt: Für Mercedes war völlig irrelevant, wer in Abu Dhabi das Rennen gewinnt. Sie hätten sich sogar noch Geld für die Punkteprämien und die Lizenzgebühren bei der FIA gespart, wenn sie es nicht gewonnen hätten."

These #5: PK-Eklat in Suzuka hin, Selbstinszenierung auf Social Media her: Lewis Hamilton ist noch der gleiche sympathische Junge wie bei seinem Formel-1-Debüt 2007.

Wer erinnert sich noch an den Lewis Hamilton von 2007? Ein sympathischer, selbstbewusster, aber gleichzeitig sehr bodenständiger und fast demütiger junger Mann, der bei jeder Gelegenheit erzählt hat, wie er einst selbst auf der anderen Seite des Zauns gestanden ist und um Autogramme gebettelt hat. Einer, der genau wusste, wo er herkommt - einer, der durch seinen Vater Anthony geerdet wurde.

Zehn Jahre später ist Hamilton auf Social Media zum Profi der Selbstinszenierung geworden, mal mehr, mal weniger geschmackvoll - wobei guter Geschmack bekanntlich immer eine subjektive Wahrnehmung ist. Er bewegt sich in Society-Kreisen, sein Selbstbewusstsein grenzt für viele Beobachter manchmal an Arroganz, und spätestens seit sein Vater nicht mehr sein Manager ist und er für Mercedes fährt, gewinnen viele Außenstehende den Eindruck, die Marke Hamilton sei wichtiger geworden als der Rennfahrer.

Unsere positiv provozierende These, dass Hamilton im Kern immer noch der sympathische Junge von 2007 ist, stimmt nicht, glaubt Colin Kolles: "Lewis Hamilton war nie ein sympathischer Junge. Er hat sich in der Formel 3 auch nicht anders benommen. Ihm ist es immer schon hauptsächlich um Publicity, um 'Fame' gegangen."

"Auf der Rennstrecke war er immer schon ein Mistkerl", stellt Kolles fest, möchte das aber nicht zwangsläufig als Negativkritik am Rennfahrer verstanden wissen: "Er hat sich noch nie etwas bieten lassen, was als Rennfahrer für ihn spricht. Aber er war nie ein sympathischer Junge. Die Person und der Rennfahrer Lewis Hamilton, das sind zwei verschiedene Sachen. Die Person will in erster Linie Ruhm erlangen."

"Lewis hat sich sehr verändert seit 2007", findet auch Alexander Wurz, und Journalist Ralf Bach, der Hamiltons Formel-1-Karriere vom ersten Tag an begleitet hat, meint: "Sympathisch ist das falsche Wort. Er polarisiert extrem. 2007 war er ein Sklave von Ron Dennis, der von ihm sogar zum Friseur geschickt wurde. Er hat seine Jugend an Dennis verkauft. Die will er jetzt nachholen und schlägt deshalb ab und an über die Stränge."

Eddie Irvine, selbst nie um eine wilde Party verlegen, sagt, dass Hamilton "offensichtlich nicht" mehr der gleiche Junge ist wie vor zehn Jahren. Die Formel 1 verändere jeden Fahrer, besonders die extrem erfolgreichen: "Die Leute wollen jede Minute des Tages einen Teil von dir. Da gibt es solche, die damit sehr gut umgehen können, wie Nico. Und dann gibt es solche, die sehr schlecht damit umgehen können, wie Lewis."

These #6: Lewis Hamilton wollte nach der Kollision in Barcelona hinschmeißen und nicht mehr für Mercedes fahren. Darum wurde beim anschließenden Test kurzfristig Pascal Wehrlein nachnominiert.

Die vielleicht heißeste Verschwörungstheorie des Jahres 2016: Lewis Hamilton, so wird spekuliert, war nach der Kollision mit Nico Rosberg in Barcelona für das Mercedes-Management tagelang nicht erreichbar und soll deponiert haben, dass er den Rest der Saison nicht mehr weitermachen möchte. Interessant: Beim Post-Race-Test in Barcelona wurde kurzfristig Pascal Wehrlein nachnominiert - um ihn im Fall des Falles auf einen Renneinsatz in Monte Carlo vorzubereiten, wie es heißt.

TV-Experte Martin Brundle sprach Hamilton vor laufender Kamera nach dem Saisonfinale in Abu Dhabi darauf an. Hamilton dementierte nicht, antwortete aber, man möge die alten Geschichten ruhen lassen. Beim Medienfrühstück nach der FIA-Gala in Wien erklärte auch Toto Wolff, er würde es gern mit Hamilton halten und die Sache auf sich beruhen lassen. Woraus Branchenkenner schließen: So unwahr scheint die Story nicht zu sein.

Colin Kolles glaubt, dass die These stimmt: "Weil er weiß, dass er mit den Leuten dort spielen kann. Das ist wie ein Pokerspiel. Da hat er gepokert, um zu zeigen, dass er im Team das Sagen hat. Nur: Wenn er menschlich Eier gehabt hätte, dann wäre er tatsächlich gegangen. Ist er aber nicht." Womit der Ex-Teamchef die mehrheitliche Meinung unserer Experten vertritt: Sehr wahrscheinlich hat Hamilton in der Tat mit Rücktritt gedroht - aber er hätte ihn niemals wahr gemacht.

"Lewis ist sehr emotional, aber er ist nicht dumm", stimmt Eddie Irvine Kolles zu. "Da war er nur ein Hitzkopf, der Bullshit geredet hat. Sicher ist ihm mal durch den Kopf gegangen: 'Mann, wie unfair, ich schmeiße jetzt hin!'" Doch als Hamilton die ersten Emotionen verdaut und wieder klaren Kopf hatte, sei ihm wahrscheinlich bewusst geworden, wie unsinnig ein spontaner Rücktritt gewesen wäre, vermutet der viermalige Grand-Prix-Sieger.

Journalist Ralf Bach ergänzt: "Ich glaube nicht, dass er zurücktreten wollte. Er hat nur damit gedroht. Wehrlein sollte getestet werden, wie weit er schon ist. Er bestand die Prüfung und wurde später gezielt als Drohfaktor bei den Verhandlungen im Sommer mit Nico Rosberg eingesetzt." Nur Alexander Wurz kann gar nichts mit These #6 anfangen: "Eigentlich gleichgültig, wer testet, weil logisch Hamilton beim nächsten Rennen wieder antreten wird. Weil er gewinnen will und ein Auto hat, mit dem er das kann. Ein Test-Strike ist hier semi-belanglos."

These #7: Mercedes hat so gute Arbeit geleistet, dass das wahre Ausmaß der Dominanz bewusst verschleiert wurde.

19 Siege in 21 Rennen, davon acht Doppelsiege, 33 von 42 möglichen Podestplätzen, 20 Pole-Positions und 765 von 903 möglichen Punkten, was einer Quote von 85 Prozent entspricht: Das Mercedes-Team war 2016 rein statistisch gesehen so unantastbar wie nie zuvor, wenn man bedenkt, dass etwa durch die Kollision in Barcelona oder Lewis Hamiltons Motorschaden in Malaysia mindestens 65 Punkte leichtfertig verschenkt wurden.

Und trotzdem gibt es Beobachter, die glauben, dass die Silberpfeile über weite Strecken der Saison mit der Konkurrenz gespielt haben, um die Rennen zwar zu gewinnen, die Konkurrenz aber nicht so in Grund und Boden zu demolieren, wie das vielleicht theoretisch möglich gewesen wäre. Stimmt, sagt Ex-Teamchef Colin Kolles: "Damit die Formel 1 spannender erscheint, als sie wirklich ist. Sie machen ein bisschen auf Hollywood."

"Ich habe schon vor einem Jahr, als bei 'ServusTV' alle von einem Ferrari-Aufschwung gesprochen haben, gesagt: 'Schwachsinn, es wird sich gar nichts ändern!' Und ich habe Recht behalten", erklärt der Deutsche. Alexander Wurz stimmt der These "teilweise" zu, Journalist Ralf Bach hundertprozentig - aber: "Verschleiert wurde nichts. Die beiden Mercedes fuhren immer nur so schnell wie sie mussten."

These #8: Ohne Toto Wolff wäre der Daimler-Konzern in der Formel 1 heute niemals so erfolgreich.

Eine These, die wir bewusst positiv formuliert haben, wie sie hier steht, um unsere Experten mal in die andere Richtung zu provozieren. Bekanntlich sind viele immer noch der Meinung, dass Toto Wolff (und Niki Lauda) vor allem die Früchte der Arbeit von Ross Brawn (und Norbert Haug) ernten. In einer Leserumfrage auf unserem Portal hatten sogar 61,97 Prozent aller Teilnehmer erklärt, dass sie glauben, Brawns Anteil an den heutigen Erfolgen sei größer als jener von Wolff.

Anders als die Mehrheit unserer Leser bewertet Alexander Wurz die These: "Toto Wolff macht einen sehr tollen Job, und der zukünftige Erfolg ist immer mehr in seinen Händen." Aber: "Diese These kann so nicht gestellt werden. Viele Weichen wurden von Norbert Haug, Ross Brawn, Andy Cowell und Ola Källenius gestellt - Paddy Lowe und Toto fahren den Zug aber supertoll weiter. Der Daimler-Erfolg ist eine Kombination des Einsatzes und Talents vieler Männer."

Eddie Irvine ist sich als Außenstehender in erster Linie sicher, dass sein Ex-Jaguar-Teamchef Lauda nichts zu den aktuellen Erfolgen beigetragen hat: "Ich kenne Niki, ich habe mit ihm gearbeitet. Und glaub mir, Niki ist nicht der Zauberer bei Mercedes!" Über seine gemeinsame Jaguar-Zeit mit Lauda hat er übrigens schon in Folge 5 unserer Video-Interviewserie "Ein Drink mit Eddie Irvine" ausführlich gesprochen.

Über Wolff sagt der ehemalige Ferrari-Pilot: "Ich bin überrascht, dass Toto den Laden so gut zusammengehalten hat. Ich dachte, dass das Team nach Ross' Weggang schrittweise zerfallen würde. Toto muss ein guter Manager sein. Er scheint in der Formel 1 nicht wahnsinnig beliebt zu sein - wenn du gewinnst, bist du das nie. Aber wenn ich ihm zuhöre, höre ich viel Sinnvolles."

Hätte Colin Kolles abgestimmt, er hätte sich der Wolff-kritischen Mehrheit unserer Leser angeschlossen: "Ich glaube, dass er das Glück hatte, zum richtigen Zeitpunkt diese Position zu bekommen und die Früchte anderer zu ernten. Toto Wolff könnte nach Hollywood gehen und dort einen Oskar bekommen - in der Rolle des Baron Münchhausen." Nachsatz: "Die Wahrheit wird eines Tages rauskommen."

Dazu muss man wissen: Kolles und Wolff waren 2013 in eine Kontroverse um einen gemeinsamen Strandspaziergang in Barcelona verwickelt. Inhalte dieses Gesprächs wurden in der 'Sport Bild' veröffentlicht und trugen große Brisanz in sich. Denn Wolff soll sich in dem Gespräch gegenüber Daimler-Vorstandschef Dieter Zetsche und weiteren Mercedes-Führungskollegen äußerst abfällig geäußert haben. Unter anderem. Die Affäre wurde von Daimler-Seite ad acta gelegt, Wolff durfte seinen Posten behalten.

Kolles weiter zu These #8: "Zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, ist auch eine Leistung. Aber der Erfolg der vergangenen drei Jahre hat mit der Person Toto Wolff nichts zu tun. Die Struktur war fix und fertig da. Diese Struktur hat auf Chassis- und auf Motorenseite alles richtig gemacht. Den Vorsprung, der da vorbereitet wurde, kann man gar nicht einholen, selbst als Ferrari nicht. Das einzige, was Toto Wolff gemacht hat, ist, dass er nichts zerstört hat."

Ralf Bach, seinerzeit als Journalist der 'Sport Bild' mittendrin in der Wolff-Kolles-Affäre, stimmt unserer These hingegen zu und würdigt damit Wolffs Leistungen für den Daimler-Konzern: "Das kann man so stehen lassen", sagt er. "Wolff hat ein gutes Händchen, intern die richtigen Puzzlesteine zusammenzuführen und nach außen für ein lockeres Image zu sorgen."

These #9: Toto Wolff und Niki Lauda spielen ihre Harmonie nach außen nur vor. In Wahrheit verfolgen sie unterschiedliche Agenden.

Die Mercedes-Chefs Toto Wolff und Niki Lauda treten in der Öffentlichkeit stets harmonisch und als ein Team auf. Hinter den Kulissen des Formel-1-Paddocks wird immer wieder gemunkelt, das sei alles nur Show - während in Wahrheit ein Machtkampf zwischen den beiden tobt. Ob unsere These stimmt, können eigentlich nur Wolff und Lauda selbst beantworten. Mercedes hat es jedoch vorgezogen, an unserem Thesen-Feature nicht teilzunehmen, obwohl dem Team die Möglichkeit dazu eingeräumt wurde.

Also versuchen sich unsere Experten daran, These #9 zu bewerten. Alexander Wurz, als Vertrauter von Wolff nahe am Thema dran, sagt: "Jeder Spieler im Fahrerlager hat seine eigene Agenda. Der Daimler-Konzern muss nur schauen, dass die Agenden der beiden und der anderen Manager sich nicht widersprechen, dann funktioniert das schon weiter so gut und harmonisch. Die beiden spielen das Spiel sehr gut."

Ralf Bach hält Wolff und Lauda in erster Linie für "verschiedene Charaktere. Wolff ist ein junger Manager voller Ideen, Lauda ein Mann von gestern, der völlig beratungsresistent ist und denkt, alles besser zu wissen. Beide sind aber gewiefte Innenpolitiker. Das passt insgesamt nicht zusammen."

Lauda sei "ein unterhaltsamer Kerl", findet Eddie Irvine, "aber man kann ihn nicht ernst nehmen. Er ist wie Donald Trump: Er meint, alle Probleme seien ganz simpel, aber Probleme sind immer sehr komplex. Toto muss sich mit den echten Problemen auf seriöse Weise auseinandersetzen. Niki hingegen haut dann und wann einfach einen Spruch raus. Wir hatten die gleiche Situation bei Jaguar, als er keine Ahnung hatte, was wirklich los war, aber immer für einen Spruch gut war."

Colin Kolles platziert bei dieser These einen weiteren Seitenhieb gegen Wolff: "Die Wahrheit wird in einigen Jahren sicher rauskommen. Wie gesagt: In Hollywood würde man für diese schauspielerische Leistung den Oskar gewinnen."

These #10: Das aktuelle Mercedes-Team wird die Formel 1 auch nach 2016 auf Jahre hinaus dominieren.

"Dominieren vielleicht nicht, aber sie werden das Team bleiben, das zu schlagen gilt", meint Ralf Bach. "Und das nicht nur wegen des besten Motors. Auch das Auto ist und wird top sein." Colin Kolles sagt: "These stimmt. Selbst die neuen Regeln 2017 sind kein erster Test für Toto Wolff und Niki Lauda, denn die von Ross Brawn aufgebauten Strukturen funktionieren ja noch. Aldo Costa, Geoff Willis, wie sie alle heißen - das sind verschiedene Abteilungen, die Hand in Hand arbeiten. Und die sind für den Erfolg verantwortlich."

Trotzdem seien die neuen Regeln 2017 "eine Chance für Teams wie Ferrari, wenn sie verstehen, wie das System Mercedes funktioniert. Red Bull und Newey wissen das auch." Eine alte Weisheit im Formel-1-Paddock: Immer dann, wenn die Regeln sich in signifikantem Ausmaß ändern, ist Stardesigner Adrian Newey besonders gefährlich. Und Newey steht momentan auf der Red-Bull-Payroll.

"Kann sein", dass Mercedes weiter dominieren wird, befürchtet Eddie Irvine. Aber: "Adrian Newey ist bei Red Bull. Ferrari sehe ich nicht in naher Zukunft passieren. McLaren auch nicht. Ich glaube, die einzige Chance, dass es wieder interessanter wird, ist durch Red Bull." Alexander Wurz stimmt zu: "Sie werden auf Jahre hinaus WM-Anwärter sein. Mercedes und Red Bull werden die Key-Player der nächsten 3 Jahre. Dafür sorgen der stand des jetzigen Know-hows, das Budget und das Concorde-Agreement."

Kolles ergänzt: "Ross Brawn kocht auch nur mit Wasser. Er hat nichts anderes gemacht als wir 2009 bei Force India. Aber wir haben es hauptsächlich aus finanziellen Gründen gemacht. Wir haben alle Ressourcen ab 2006 auf 2009 konzentriert. Natürlich hatten wir dann 2006, 2007 und 2008 schlechte Jahre. Wir haben zwar parallel die Autos entwickelt, aber das Hauptaugenmerk lag auf 2009."

"Das hat Ross Brawn auch gemacht. Wenn es neue Regeln gibt, switcht er rechtzeitig alle Ressourcen auf das neue Reglement, damit er einen Vorsprung hat. Er fängt nicht ein Jahr vorher an, sondern feilt am Grundkonzept schon drei, vier Jahre vorher." Ein Vorsprung, von dem Mercedes laut Meinung von Kolles noch das eine oder andere Jahr zehren kann.

*Das sind unsere Experten:

Eddie Irvine: Der 51-jährige Nordire stieg 1993 auf Jordan in die Formel 1 ein und erlangte frühe Berühmtheit, als er sich mit dem großen Ayrton Senna anlegte. 1996 wechselte er als Teamkollege von Michael Schumacher zu Ferrari, 1999 verpasste er um ein Haar den Gewinn der Weltmeisterschaft. Ende 2002 beendete er auf Jaguar nach vier Grand-Prix-Siegen seine Formel-1-Karriere und begann eine zweite Laufbahn als erfolgreicher Geschäftsmann. In der Video-Interviewserie "Ein Drink mit Eddie Irvine" tauchte er 2016 nach langer Pause wieder in der Öffentlichkeit auf.

Alexander Wurz: Der 42-jährige Österreicher hat zwischen 1997 und 2007 69 Formel-1-Rennen für Teams wie Benetton, McLaren und Williams bestritten. 2007 war er bei Williams Teamkollege von Weltmeister Nico Rosberg. In seiner Grand-Prix-Karriere stand er dreimal auf dem Podium. 1996 und 2009 hat er zudem das 24-Stunden-Rennen von Le Mans gewonnen. Heute ist er TV-Experte für das österreichische Fernsehen.

Colin Kolles: Der 48-jährige Deutsche war Teamchef bei mehreren Formel-1-Rennställen (Jordan, MF1, Force India, HRT und Caterham). Davor betrieb der gelernte Zahnarzt unter anderem in der Formel 3 Teams, aber auch in der DTM. Heute ist er vor allem im Langstrecken-Sport engagiert, mit seinem eigenen LMP-Rennstall ByKolles - und in der Formel 1 immer noch bestens vernetzt. Schlagzeilen machte zuletzt seine Kontroverse mit Toto Wolff im Jahr 2013.

Ralf Bach: Der 55-jährige Deutsche arbeitete als Journalist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Abendpost/Nachtausgabe, bevor er 1989 das Motorsportressort bei der Auto Zeitung übernahm. In Köln zog er mit dem jungen Michael Schumacher und Heinz-Harald Frentzen um die Häuser. Ihr Beiname damals: "magisches Dreieck". Heute schreibt er für Sport Bild, Auto Bild motorsport, die tz sowie die Westdeutsche Allgemeine Zeitung.

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